Kliebhan, B. (1999): Der Beitrag von E.A.Martel (1859-1938) zur Entwicklung der Höhlenbefahrungstechnik
Kliebhan, B. (1999): Der Beitrag von E.A.Martel (1859-1938) zur Entwicklung der Höhlenbefahrungstechnik – Mitt. Verb.dt.Höhlen- und Karstforscher Jg.45(2) München 1999
Der Beitrag von E.A.Martel (1859-1938) zur Entwicklung der Befahrungstechnik
Seit mindestens 30.000 Jahren werden Höhlen von Menschen besucht. Bei diesen frühen Ausflügen in die Unterwelt wurden beträchtliche Distanzen zurückgelegt – in der Mammoth Cave in Kentucky drangen Indianer vor 3 – 4000 Jahren über 3 km in die Höhle vor. In Rouffignac in Südwest-Frankreich finden sich Mammut-Darstellungen rund 1,5 Km vom Eingang entfernt. Der „Salon noir“ in Niaux liegt ebenfalls über 1 km vom Tageslicht entfernt.
So beeindruckend diese frühen Höhlenerkundungen auch sein mögen – ernsthafte Befahrungshindernisse hatten die steinzeitlichen Besucher nicht zu überwinden. Ihr einziges Problem war die Beleuchtung – und dafür fanden sei mit Fackeln oder Öllampen eine gute Lösung.
Bis ins 19. Jahrhundert änderte sich im Grunde wenig – von Verbesserungen bei der Beleuchtung abgesehen: die Befahrungen endeten, sobald grössere Hindernisse wie Schächte oder Wasserläufe den Weg versperrten. Die Forschungsberichte aus vertikalen oder Wasserhöhlen aus der Zeit vor 1880 sind fast an einer Hand abzuzählen: die Erkundung der Macocha (Mährischer Karst) 1784, Lindners Abstieg in den Schacht von Trebiciano 1841, die Befahrung der Flussläufe in der Adelsberger Grotte durch Schmidl und Rudolf 1850 – um die wichtigsten Daten zu nennen.
Erst mit der Gründung des „Vereins für Höhlenkunde“ in Wien im Jahre 1879 begann die Zeit der „modernen“ Höhlenforschung, in der systematisch nach Wegen gesucht wurde, auch schwierige Hindernisse unter der Erde zu bewältigen. Eine besondere Rolle spielt dabei der französische Rechtsanwalt Edouard Alfred MARTEL, der durch die Entwicklung einer für die damalige Zeit „hochmodernen“ Ausrüstung in bis dahin unerreichbare Bereiche vorstiess.
Während in Frankreich E.A.MARTEL als Begründer der modernen Höhlenforschung verehrt wird ist bei den deutschen Höhlenforschern nur relativ wenig über MARTEL´s Forschungen bekannt – vor allem, weil seine Veröffentlichungen (die bis auf wenige Ausnahmen nie übersetzt wurden) längst vergriffen sind und nur noch selten einzelne Exemplare in den Antiquariaten auftauchen. Im Folgenden sollen deshalb einige weniger bekannte Quellen einer deutschen Leserschaft zugänglich gemacht werden.
Die Höhlenforscherkarriere von E.A.MARTEL (Abb.1) begann am 27. und 28. Juni 1888 mit der ersten Befahrung des unterirdischen Flusslaufs von Bramabiau bei Camprieu – eine spektakuläre Traverse von 700 Metern Länge. Die Unternehmung gilt heute als Geburtsstunde der Speläologie in Frankreich.
Bei dem Unternehmen setzte Martel eine starre Leiter zur Überwindung des Wasserfalls im Eingangsportal von Bramabiau und ein Faltboot ein, mit dem die Wasserfläche am Ende der „Grande Galerie“ überquert wurde (Abb. 2).
Noch im selben Jahr unternahm Martel seinen ersten Abstieg in eine Schachthöhle: in der „Baume Chaude“ liess er sich an einem einfachen Hanfseil rund 30 Meter freihängend in den „Puit du Lac“ hinab. Die Sache sei „mangels geeigneter Ausrüstung sehr aufregend“ gewesen.
Doch die nötige Ausrüstung entwickelte er in den nächsten Monaten und verfeinerte seine Technik bei seinen jährlichen Forschungskampagnen immer mehr.
„Wir benutzen zwei Abstiegsmethoden: entweder das Ablassen am Ende eines Seils oder der Abstieg an Strickleitern; mehr und mehr wenden wir aber die zweite, sicherere Methode an und haben deshalb immer mehr Leitern angeschafft (12 Meter 1888, 32 Meter 1889, 62 Meter 1890 und 142 Meter 1892). In beiden Fällen wird der Mann, der sich in die Tiefe wagt, auf dieselbe Weise gehalten, die zu beschreiben lohnt: ein starker grader Stock aus frischem Holz von ungefähr 0.60 m Länge und 6 bis 7 cm Durchmesser wird ganz einfach von einem Baum in der Nachbarschaft geschnitten. In der Mitte wird die Rinde entfernt, um eine leichte Einkerbung von 10 bis 12 cm Länge zu erreichen. Diese Einkerbung dient dazu, das Ende eines Seils so um den Stock zu knoten, dass es sich nicht seitlich verschieben kann. Der Knoten muss gut festgezogen sein, denn er trägt die gesamte Last. Der Forscher setzt sich auf den Stock mit den Beinen rechts und links vom Seil, das vor seinem Gesicht und seiner Brust entlangläuft. Ein kurzes Seil von ca. 1 Meter 50 wird 2 mal um den Körper geführt, über die eine Schulter und unter der anderen hindurch, in einer Weise, dass das Tragseil gegen die Brust gedrückt wird. So ist der Forscher mit den Tragseil fest verbunden und vor allem gesichert gegen den Sturz nach hinten bei zu hastigen Bewegungen.“
Auf dem Stock sitzend wurden Martel und seine Gefährten von 5 bis 7 starken Helfern, die im nächsten Dorf angeheuert worden waren, in die Tiefe gelassen (Abb. 3). Die Strickleiter diente dabei nicht zur Fortbewegung, sondern sollte ein Gefühl von Sicherheit vermitteln und vor allem das ansonsten unvermeidliche Aufdrehen des Hanfseils verhindern. Bei grösseren Schächten war bei dieser Methode ein verlässliches Kommunikationssystem zwischen dem absteigendem Forscher und der Mannschaft an der Erdoberfläche unverzichtbar.
„In tiefen Schächten, die sich meistens nach unten verbreitern, verliert sich die Stimme durch die Resonanz und kann schon bei 30 oder 40 Metern nicht mehr verstanden werden, bei engen Schächten auch weniger. Unsere ersten Versuche von 1888 haben uns das deutlich gezeigt und wir hätten nicht die späteren Erfolge erzielt ohne den Einsatz des beachtlichen magnetischen Telephons von Branville (System Aubry), wie es in der Armee eingesetzt wird. Jede Sprechstelle, die zugleich Sender und Empfänger ist, wiegt 400 Gramm bei 8 Zentimeter Durchmesser und 3 Zentimeter Stärke. In der Tasche nimmt es kaum Platz weg und das leichte Telephonkabel, das man beim Abstieg mitnimmt, sichert die Kommunikation mit der Aussenwelt.
So wird die elektrische Sprache klar und deutlich aus dem Inneren der Erde an die Oberfläche übertragen und eine Verbindung hergestellt zwischen dem Forscher und den Kameraden am Tageslicht, durch Schächte und Kavernen, über Sturzbäche und Seen hinweg. Gewiss ein grosser Gewinn an Sicherheit und eine mächtige moralische Stütze, was die Kühnheit verdoppelt, da ja das Vertrauen besteht, dass Rettung möglich ist. Unseres Wissens handelte es sich um die erste Anwendung des wunderbaren Instruments in diesem Zusammenhang.“
Ab 1888 organisierte Martel jährliche Forschungskampagnen von jeweils 2 Monaten in alle wichtigen Karstgebiete Frankreichs. Er führte dabei genaue Statistiken und so wissen wir, dass allein von 1888 – 1893 die stattliche Zahl von 230 Schächten und Horizontalhöhlen erforscht wurden, wobei 50 Kilometer Höhlengänge vermessen wurden. Besonders die Schächte in den Karsthochflächen Südfrankreichs, den „Causses“, hatten es Martel angetan, denn dort war das Neuland zum Greifen nahe. Die erreichten Tiefen sind noch heute respektabel: 133 Meter Direktabstieg im Aven de Tabourel, 106 m im Mas Raynal (Larzac), 130 m im Gouffre de Rabanel (der mit 200 m Gesamttiefe für lange Zeit die tiefste Höhle Frankreichs war). Im verwinkelten Aven de Vigne Close (Ardèche) stieg Martel über 5 Schachtstufen insgesamt 190 m tief ab (Abb. 4) Besonders spektakulär: der Abstieg in den Aven de Jean Nouveau, ein 163 m tiefer kreisrunder Schacht (Abb 4).
Bei diesen Unternehmungen war Martel auf geschickte Helfer angewiesen. 1888 hatte er bei seinen ersten Forschungen den Dorfschmied von Le Rozier, Louis Armand, als zuverlässigen Techniker kennen und schätzen gelernt. Bei allen Forschungskampagnen war Armand fortan als „Vorarbeiter“ mit dabei, dem Martel blind vertrauen konnte. Zwischen dem Pariser Grossbürger Martel und dem einfachen Handwerker entwickelte sich im Laufe der Jahre eine tiefe Freundschaft über soziale Grenzen hinweg.
Bei den Expeditionen waren manchmal mehrere Tonnen von Ausrüstungsgegenständen zu bewegen:
„Unser Material erregte allgemeines Aufsehen. Wenn wir unglücklicherweise an einem Sonntag in Aktion traten, rotteten sich ganze Dörfer am Einstieg unseres Schachtes zusammen und behinderten unsere Arbeit. Wir selbst mußten aber manchmal fast lachen über diesen wirren Haufen von Seilen, Flaschenzügen und Winden, Leitern und Beleuchtungskörpern, die wir auf kaum erkennbaren Wegen in die Berge geschafft hatten. Ganz zu schweigen von den Gerätschaften für Vermessung und Fotographie, den Kleidern zum Wechseln, den Korbflaschen voll Wein und den Picknick-Körben.
Wenn wir in die dunklen Schächte hinabstiegen bekreuzigten sich die alten Frauen und murmelten zwischen zwei Vaterunser: „Sicher kommen Sie da hinunter, verehrte Herren, aber nie wieder hinauf!“ Oder sogar: „es gibt alle Arten von Irren!“ Und Bauern fragten uns: „Wollen Sie bei sich zu Hause auch ein solches Loch graben, daß Sie einen Plan von diesem hier brauchen?“ Und die braven Landpfarrer, bei denen wir in Ermangelung von Gasthäusern oft abstiegen, nötigten uns ihren Segen auf.“
Martel´s Technik für die Schachtbefahrung war – für seine Zeit – perfekt. Und auch für die Überwindung von unterirdischen Flussläufen sicherte er sich die optimale Ausrüstung. Zerlegbare, mit Leinwand bespannte Kajaks waren kurz zuvor in den USA und in Frankreich auf den Markt gekommen. Martel erkannte rasch, dass mit diesen Booten auch Höhlenflüsse fernab der Höhleneingänge erkundet werden konnten – selbst Engstellen und Kletterpassagen waren keine unüberwindlichen Hindernisse mehr (Abb. 5 ).
Schon ein Jahr nach der Durchquerung von Bramabiau gelang Martel und seiner Mannschaft am 9. und 10. Juli 1889 auf den Causse de Gramat mit dieser Technik eine spektakuläre Entdeckung: im Gouffre de Padirac stiessen sie in 103 Meter Tiefe auf einen unterirdischen Flusslauf, den sie fast 1,5 km weiter verfolgen konnten. Die Höhle ist heute eine der meistbesuchten touristischen Attraktionen von Südwestfrankreich. MARTEL´s Beschreibung der Ersterkundung ist heute noch fesselnd:
„Ich steige als erster hinab. Nach 8 Minuten bin ich am Ende der Leiter angekommen. Ich mache mich vom Seil los und hebe den Kopf. Der Eindruck ist fantastisch: man glaubt in einem Teleskop zu stecken,das auf ein Stück blauen Himmels gerichtet ist. Das senkrecht einfallende Licht beleuchtet mit seinem Widerschein, so wie ich es noch nirgendwo gesehen habe, die Wände desSchachts.
Am Rande des Lochs tauchen winzig klein die Köpfe meiner Gefährten auf, die auf dem Bauch liegen, um mich zu beobachten. Dazwischen wie ein schwarzer Spinnenfaden das Telefonkabel, die Verbindung mit der lebenden Welt.“
Nach 400 Metern beendete ein breiter Flusslauf den Vorstoss. Am nächsten Morgen waren Martel und seine 3 Gefährten mit ihrem Faltboot „Crocodile“ – einem amerikanischen Fabrikat der Marke „Osgood“ – erneut zur Stelle. Martel und sein Vetter Gaupillat begannen mit dem winzigen Gefährt (und Kerzen und Magnesiumstreifen als einzigen Lichtquellen!) ihre Reise hinein ins Unbekannte, während Armand und Foulquier am Ufer zurückblieben – wo sie 6 ½ Stunden auf die Rückkehr ihrer Kameraden warten durften.
Nach rund 400 Metern problemloser Fahrt ohne Hindernisse durch grosse Gänge mit teilweise spektakulären Tropfsteinformationen beginnt eine Art Hinderniss-Lauf:
„Der Ausgang des „Lac du Bénitier“ ist sehr eng. Zwischen 2 geraden, 60 Meter hohen Tropfsteinsäulen verschwindet der gesamte Fluss in der Finsternis; ob wir ihn verfolgen können?
Das „Crocodile“ ist etwas biegsam: mit beiden Händen stossen wir uns an der Wand entlang. Die Spanten ächzen, die Stoffbespannung schleift grob über die Felsen, das Boot gibt nach! Wenn es zerbrechen würde! Das Wasser ist mehrere Meter tief! Wir stecken wie in einem Schraubstock, können weder vor noch zurück: noch eine Anstrengung, wir werden es schaffen! … Wir sind hindurchgekommen, durch den „Pas du Crocodile“; eine Engstelle von vielleicht 91 cm, denn unser Gefährt ist 90 cm breit! …“
Zahlreiche natürliche Tropfstein-Barrieren machen uns viel Arbeit. An jeder Barriere müssen wir das Boot aus dem Wasser heben und es ins nächste Becken hinablassen. 34 mal haben wir auf dem Hin- und Rückweg dieses gefährliche Manöver zu wiederholen, die Kerze zwischen den Zähnen, und oft ist ein Vollbad unvermeidlich. Diese „Gours“ sind zwischen 0.20 m und 6 m hoch. Der längste misst 25 bis 30 Meter. …
Wir fahren in einen 7. See hinein, unter einem Dom von 20 Meter Höhe und Breite. Hier ist das Ende, rundherum scheint alles geschlossen. Irrtum: in einer Ecke führt ein Tunnel weiter, breit, aber nur 50 Centimeter bis 1 Meter hoch; … Aus der Ferne hören wir die Musik von ins Wasser fallenden Tropfen; sollte sich die Zauberwelt fortsetzen?
Wir beraten: es hat gestern geregnet, heute morgen kündigten sich Gewitter an, und wir sind schon seit 7 Stunden unter der Erde, vielleicht hat der Himmel seine Schleusen geöffnet, vielleicht wird der Fluss ansteigen! Werden wir wieder zurückkönnen? Aber was soll´s! Das Unbekannte setzt sich fort, zieht uns unwiderstehlich an: vorwärts, auf Entdeckung! …
Bis wohin werden wir noch gelangen? Langsam wird es uns unheimlich. Noch 8 Sinterbecken, dicht hintereinander.Wir sind triefnaß. Der Kerzenvorrat geht zur Neige.Wir müssen umkehren: Müdigkeit überfällt uns, und auf dem Rückweg sind die Hindernisse vielleicht noch schwerer zu überwinden.“
14 Monate später, am 9. und 10. September 1890 setzte Martel die Erforschung von Padirac fort. Ein 25-stündiger Vorstoss mit 3 Booten – zwei „Osgood“ und einem französischen „Berthon“ – brachte knapp 300 Meter Neuland und endete an der „Grande Barrière“. „ Die Lokalpresse hatte das Unternehmen breit angekündigt und so drängten sich über 1000 Schaulustige am Schacht. Die Polizei hatte alle Hände voll zu tun, um die Unvorsichtigen vom Abgrund zurückzuhalten und Unfälle zu verhindern.“
Viel Publikum war auch zur Stelle, als Martel 1895 bei einer Reise durch Irland und England sich den bis dahin unbezwungenen, 110 Meter tiefen Schacht von Gaping Gill auf den Yorkshire Dales vornahm.
„Ohne die Hilfe meines treuen Armand mußte ich selbst ganz allein die endlosen Vorbereitungen erledigen, um die er sich sonst gekümmert hatte und deren sorgfältige Ausführung überlebenswichtig war.
Ich konnte bei dieser Gelegenheit die großen Vorteile des ausgeprägten britischen Phlegmas schätzen lernen: die Zuschauer, obwohl offensichtlich neugierig und interessiert, hielten sich stark zurück. Nichts störte die Übermittlung meiner Anweisungen, keine ungeschickten Hilfsangebote behinderten mich bei meinen Vorbereitungen“.
Der anwesende Reporter der Lokalpresse beschrieb die Szene so:
„Er überliess nichts seinen Helfern. Alle Vorbereitungen traf er persönlich und überprüfte jedes Seil und jeden Knoten mit der Sorgfalt eines Mannes, der weiss, dass sein Leben an ihrer Sicherheit hängt. Wie peinlich genau seine Vorbereitungen waren zeigt sich am besten daran, dass sie volle 3 Stunden dauerten. Erst um 1 Uhr 25 wurde M.Martel in den Schacht hinabgelassen und es dauerte bis 20 vor 4 bis er wieder an die Oberfläche kam. Bei seinem Abstieg waren ungefähr 80 Zuschauer zugegen; aber als er wieder auftauchte war die Zahl kleiner, da etliche Schaulustige ermüdet davongezogen waren.
Martel hatte vor seinem Abstieg einen Blaumann über seine normale Kleidung angezogen. Er war gut ausgestattet mit Kerzen und Magnesium-Draht und einem 600 Fuss langen Telefonkabel, so dass er mit seiner Frau und Freunden an der Oberfläche kommunizieren konnte.“
Dann der Abstieg:
„Die ersten 20 Meter gehen wunderbar einfach. Das Seil liegt leicht an der Wand an, ich muß mich nur hinabgleiten lassen. Der Wasserfall bleibt 1 Meter 50 zu meiner Linken entfernt. Sein Schaum spritzt mich naß, aber der Wasserstrahl behindert mich nicht.
Dann tauche ich in den Wasserfall ein: Das Wasser ist kalt und fließt mir trotz meines zugeknöpften Kragens zum Hals hinein und jagt mir Schauer über den Rücken. Ich beglückwünsche mich für die Idee, Stiefel mit Löchern anzuziehen, durch die das Wasser abfließen kann. Aber ich bin nicht, wie befürchtet, durch den Schock des auf meinen Kopf fallenden Wassers benommen. Allerdings habe ich einen festen Lederhelm auf.
In 40 Meter Tiefe werde ich abrupt angehalten: ‚Hallo, hallo, was ist los? – der Knoten zwischen zwei Seilen hat sich in einer Felsspalte verfangen, wir brauchen 5 Minuten um ihn freizumachen – Also nein, keine 5 Minuten. Ich hänge mitten im Wasserfall und es ist nicht gerade warm hier. Beeilt Euch!‘ Da kann ich noch so protestieren und zetern, die Zeit verfließt langsam, während mich die Kaskade in die Falten einer wirbelnden wogenden Tunika wickelt.
Plötzlich, in 70 Meter Tiefe, weitet sich der Schacht, die Wände springen in rechtem Winkel zurück, verwandeln sich in eine waagrechte Decke, die sich in den Dunkelheit verliert. Ich komme in einer riesigen Höhle an, deren Ende ich nicht sehen kann.
Um 1 Uhr 45 setze ich den Fuß auf den Boden. Der Abstieg hat 23 Minuten gedauert. „
MARTEL´s Unternehmen fand ein breites Echo in der englischen Presse und ermunterte die britischen Höhlenfreunde zu systematischen Erkundungen. Auch in anderen Ländern initiierte MARTEL ernsthafte speläologische Forschung, wofür er z.T. auch sein Befahrungsmaterial zur Verfügung stellte. So untersuchte der griechische Ingenieur SIDERIDES ab 1891 mit MARTEL´s Ausrüstung Schachthöhlen in Griechenland.
1894 erschienen zwei grundlegende Werke, die die weitere Entwicklung Höhlenforschung prägen sollten: MARTEL´s „Les Abimes“ und „Höhlenkunde“ von Franz Kraus. In beiden Werken wird MARTEL´s Befahrungstechnik ausführlich dargestellt, seine Methoden blieben fortan für mehrere Jahrzehnte „Stand der Technik“ – bis die Entwicklung der (sehr viel leichteren) Drahtseilleiter durch Robert de JOLY in den 20er Jahren eine neue Phase der Schachthöhlen-Forschung einläutete. Und auch bei der Erkundung von Wasserhöhlen führte MARTEL´s Nachfolger de JOLY neue Methoden ein: Schlauchboote und wasserdichte Anzüge.
So simpel und unsicher MARTEL´s Techniken aus heutige Sicht auch scheinen mögen – ernsthafte Unfälle hat es bei seinen Forschungen in über 1000 Höhlen nicht gegeben, wobei sicher sehr viel Glück im Spiel war. In seinen Büchern beschreibt MARTEL zahlreiche riskante Situationen, die leicht hätten tödlich enden können: Steinschlag und Beinah-Stürze, gestörte Telefonverbindungen und das Kentern seines Bootes im Fluss von Padirac.
Ein für MARTEL absolut unverzichtbarer Bestandteil der Ausrüstung soll nicht unwähnt bleiben: der eiserne Vorrat an Rum oder Cognac. Grosse Korbflaschen voll Wein und üppiger Proviant gehörten zur Grundausstattung der oberirdischen Basislager. Und auch unter der Erde wurde nicht gedarbt. Umso grösser MARTEL´s Entsetzen, als er sich 1912 bei seinem Besuch der Mammoth Cave mit den Folgen der amerikanischen Prohibition konfrontiert sah:
„Besonders missfiel mir wegen seiner unangenehmen Auswirkungen die allzu absolute Handhabung des Alkoholverbots im dry state Kentucky: volle Tage in der Feuchtigkeit und Finsternis einer gigantischen Katakombe zu verbringen und zur Stärkung (sogar im Hotel) nichts als aqua simplex (reines Wasser wäre der falsche Begriff), Kräutertee oder ginger-beer zu bekommen (was nach gezuckertem Pfeffer schmeckt), und damit eine der dürftigsten Küchen zu begiessen – das würden europäische Höhlenforscher nicht akzeptieren. Ohne einen Rum-Flacon in meinem persönlichen Gepäck hätte ich den sehr mühsamen Besuch von Hovey´s Cathedral nicht beenden können.“
So sehr sich auch die Befahrungstechniken geändert haben – zumindest in diesem Punkt ist die Mehrheit der heutigen Höhlenforscher MARTEL´s Grundsätzen treu geblieben. Womit wohl der letzte Zweifel ausgeräumt sein dürfte, dass Edouard Alfred MARTEL völlig zu Recht als „Vater der modernen Höhlenforschung“ in die Geschichte eingegangen ist.
Abb. 8 und 9: Martel-Denkmal in Le Rozier. Links Martel, rechts Louis Armand. Foto:Kliebhan
Literatur:
A.A. (1895): Gaping Ghyll Hole Fathomed – Triumph of a Frenchman. The Bradford Observer, 5. Aug. 1895
CASTERET, N. (1943) : E.-A. MARTEL, Explorateur du Monde Souterrain, Paris
KRAUS, F. (1894) : Höhlenkunde, Wien
MARTEL, E.A. (1897) : Irlande et Cavernes anglaises, Paris
MARTEL, E.A. (1894) : Les Abimes, Paris
MARTEL, E.A. (1914) : Explications sur Mammoth Cave. Spelunca No.74, Paris
SHAW, T.S. (1994) : The wider purpose of Martel´s visits abroad. Acta Carsologica XXIII / 17 – p.222-230